„Ich empfinde diesen Steinbruch als endlos“

Obwohl mittlerweile 60 Jahre alt, hat sich der Chroreograph Martin Schläpfer noch einmal zu einer großen Aufgabe und weltberühmten Institution aufgemacht: der Wiener Staatsoper. Im September begann die neue Spielzeit, am 24. November wird sein erstes in Wien choreografiertes Stück vom Wiener Staatsballett uraufgeführt.

Bettina Trouwborst: Mein Tanz, mein Leben, Henschel Verlag, 286 Seiten, 86 Abbildungen, 30 Euro.

Ursprünglich wollte er sich nach elf hochdekorierten Jahren als Direktor des Balletts am Rhein in einen umgebauten Stall im Tessin zurückziehen, ein Haus, das er schon seit langer Zeit dafür vorbereitet hat. Er hätte, wie er im Gespräch mit „Concerti“ jüngst sagte, „vielleicht zwei Monate unterrichtet und ein neues Stück pro Jahr gemacht. Und zusätzlich mehr frei gearbeitet.“ Insgesamt drei Mal habe Wien angefragt, sagt er in demselben Gespräch. Dann erst fiel der Entschluss, sich doch erneut auf eine Direktion einzulassen.

Wer Schläpfers Arbeiten mag und Schläpfer als Künstler, als Mensch, hat jetzt eine tolle Gelegenheit, ihm näher zu kommen. Bettina Trouwborst, Kulturjournalistin, hat einen Interview-Band produziert, der im Juni bei Henschel erschienen ist.

Schläpfers Arbeiten haben mir bisher gefallen, aber nicht umgehauen. Das mag daran liegen, dass ich nicht ausreichend viele Stücke gesehen habe oder doch eine gewisse innere Distanz zum Spitzentanz habe. Publikum und Experten jedenfalls waren jahrzehntelang voll des Lobes. Aber als Künstler und Mensch fasziniert mich Martin Schläpfer seit dem Film „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ von 2015 sehr. Was für ein feiner Geist und sympathischer Mann dachte ich oft, als ich das Portrait von Annette von Wangenheim sah.

Trailer zu „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“, 2015. Buch und Regio: Annette von Wangeheim. Eine Produktion von 7T1 MEDIA / In Zusammenarbeit mit ARTE, WDR; SRF

Dieses Bild erweitert und bestätigt sich bei der Lektüre von Trouwborsts Buch mit dem Titel „Mein Tanz, mein Leben“. Schläpfer zeigt sich erneut als überaus sympathischer, warmherziger, nachdenklicher und reifer Mensch, aber keineswegs energieloser oder melancholischer Typ. Alle Kraft, und davon scheint es eine Menge zu geben, fließt in seine Arbeit. Regelmäßig, so wirkt es, verausgabt sich Schläpfer beim künstlerischen Prozess im Tanzsaal, aber auch bei seinen Aufgaben als Direktor, der verwaltet, organisiert, repräsentiert, Frage und Antwort steht. In der Sommerpause zieht er sich in die Berge zurück, pflegt die „Einsiedelei“, wie er sagt. Holt Luft, kommt zu sich. Dass sich Schläpfer dem Tanz so widmet und widmete, führte auch zur Beziehungslosigkeit.

Jedes Mal, wenn ich eine Beziehung einging oder mich hätte verlieben können, empfand ich das als Feindschaft meiner Kunst gegenüber. … Mir erscheint das überhaupt nicht traurig. Ich lebe trotzdem ein erfülltes Leben. … Natürlich können Sie vieles nicht leben als Künstler. Dafür können Sie andere Dingen intensiv leben, die andere nicht mal ansatzweise ankratzen.“

Schläpfer ist jemand, der den Tanz unbedingt fördern möchte, abseits dessen, woran er persönlich gerade arbeitet oder wo er aktuell engagiert ist. Offene Workshops und Trainings, auch für Laien, bietet er gern an. Auch in Wien hat es sie bereits gegeben.

Es ist eine Sisyphusarbeit an unseren Opernhäusern, permanent darauf zu verweisen, dass wir auch noch da sind.“

Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, kostet Schläpfer enorme Kraft, daraus macht er keinen Hehl. Doch:

„Ich tue das alles, weil es Brennholz ist für das Ensemble und mich – aber auch für diese Kunst, die immer diskriminiert wird. Ich finde, es ist zu wenig, nur hinten im Saal zu sitzen und gut von innen nach außen zu arbeiten. Ich bin dankbar für die Medien, weil ich der Meinung bin, dass über Tanz geredet werden muss. Es ist eine nonverbale Kunst und sie wird nicht immer verstanden.“ … „Dass der Tanz diskriminiert wird und nie den Stellenwert von Oper und Schauspiel hatte, ist ganz klar. Und dass es mit dem Verhältnis zum Körper zu tun hat, auch. Der Körper wird im Gegensatz zum Wort oder Intellekt vom Christentum und sämtlichen anderen Religionen abgewertet… „

Tanz ist für Schläpfer etwas

… Hochspirituelles… Ich möchte versuchen, rein mit den Dingen zu arbeiten, die den Menschen ausmachen: dem Kopf, dem Körper, den Gefühlen, den Geist, vor mir aus der Psyche. … Ich empfinde diesen Steinbruch als endlos. Ich suche, ach, das tönt so geschwollen, nach etwas Göttlichem in allem.“

Neben den fazinierenden Einblicken in seine berufliche Entwicklung (zur Biografie siehe „Zur Person“) brachten mich vor allem – scheinbare? – Gegensatz zum Staunen. Schläpfer wirkt unprätentiös, bodenständig, am Puls der Zeit, er denkt und arbeitet nachweislich politisch. Gleichwohl hadert er sichtbar mit zeitgenössischen Positionen des Tanzes, auch wenn er sagt, dass er „auch guten Contemporary Dance“ liebe.

Im Gespräch über die Bedeutung des akademischen Bühnentanzes sagt Schläpfer:

Ich glaube, dass viele Leue das Gefühl haben, der zeitgenössische Tanz sei politischer und näher an der Gesellschaft, weil die Tänzer darin viel mehr sie selber sein können. Er ist in der Regel ein Amalgam der Techniken von Tai-Chi über Yoga bis Akrobatik und Ballett – und er ist auch performativ geworden. Die zeitgenössischen Tänzer müssen nicht wie in der Klassik diesen Akt erbringen, sich fast selbst zu überschreiten.“

Oh, es wäre fein, mit Schläpfer darüber noch weiter zu diskutieren, denn das sehe ich persönlich ganz anders. Natürlich ist nicht jeder moderne Tanz gut, auch nicht, wenn er andere körperliche Höchstleistungen erfordert. Aber „sich selbst zu überschreiten“, ist das nicht immer der Weg, um echte Kunst zu schaffen, etwas Neues, Inspirierendes zu kreieren und seinem Publikum nicht nur zu gefallen, sondern auch etwas mitzugeben? Und dazu ist der zeitgenössische Tanz zweifellos in der Lage.

Bettina Trouwborst widmet Fragen rund um künstliche Intelligenz und Menschsein einen eigenen Abschnitt. Ob sich Schläpfer, der zuvor schon berichtet hatte, nur dienstlich, aber nicht privat einen Computer zu nutzen, vorstellen könne, gemeinsam mit KI ein Ballett zu erschaffen und ob er schon mal eine derartige Vorstellung gesehen habe.

Für mich persönlich ist das unvorstellbar. Ich kann verstehen, dass Menschen mit einer mentalen Offenheit für diese mögliche Zukunft ein Interesse daran haben, dieses Feld zu erforschen. Aber ich kann Bewegung nicht ohne den Menschen sehen.“ … Ich habe ja auch noch nie einen Sciene-Fiction-Roman gelesen oder einen Star-Wars-Film gesehen. Diese Enwürfe sind für mich vollkommen uninteressant. Da fehlt mir das Rituelle, die Fragestellung nach Gott, Liebe, Poesie, Sinnlichkeit.“

Für mich persönlich wirkt das ein wenig antiquiert, möglicherweise auch deswegen, weil Schläpfer sonst sehr politisch und engagiert in die Zukunft blickt: Hunger, Atomkraft, vor allem ökologische Fragen beschäftigen ihn.

Oder wie heute die Religionen wieder so dümmlich ausgelegt werden. Viele glauben bald wieder an einen personifizierten Gott. Oder der Umgang mit Frauen. Ich würde mir wünschen, dass man die Gleichberechtigung der Frauen endlich hinkriegen würde. Das ist mir persönlich fast noch wichtiger als der Umgang mit Homosexuellen.“

Mit Freude las ich, wen Schläpfer bewundert und welche Choreografen er warum zu seinen Abenden eingeladen hat: In Düsseldorf und Duisburg war das sozusagen ein Signature-Konzept Schläpfers, dass er ein neues Werk von sich präsentierte und zwei weitere von zwei Choreografen, die er eingeladen hatte. Crystal Pite (ich bin Fan!) habe immer auf seiner Wunschliste gestanden, an sie wäre er aber, da sie so gut gebucht war, nicht herangekommen.

Die von Verlag und Autorin gewählten Begriffe, um Schläpfers Biografie zusammenzufassen, in die Irre. „Vom Sohn eines Appenzeller Bergbauern“ zum „Ausnahmekünstler“ heißt es bei Henschel. Trouwborst nennt ihr erstes Kapitel „Vom Biobauern zum Meisterchoreografen“. Der Großvater Schläpfers war Landwirt, aber groß wurde er in einem bürgerlichen und politischen Elternhaus. Während einer tänzerischen Krise will sich Schläpfer ganz von der Kunst lösen und beschließt Landwirt zu werden, er besteht die Aufnahmeprüfung an einer Biobauernschule. Er kehrt jedoch bald zum Tanz zurück. Mir scheint, da wurden Schläpfers Herkunft und seine Liebe zur Natur doch etwas überbetont, weil es einfach so erstaunlich und überraschend schön klingt, das Narrativ à la „vom ahnungslosen Hinterland in den Bergen zur kosmopolitischen Weltspitze der Kunst“. Und Schläpfers Karriere begann früh: Mit knapp 17 Jahren gewann er den Prix de Lausanne.

Insgesamt sind Bettina Trouwborst wunderbare Gespräche mit Martin Schläpfer gelungen, die vor allem aufzeigen, welche Entwicklung diese Künstlerpersönlichkeit genommen hat. Schamfrei, offen und ehrlich, gleichzeitig selbstbewusst und überzeugt, schildert der Tänzer, wie er als Mensch gewachsen ist, welche Umstände und Begleiter ihn am meisten beeinflusst haben. Es wird schön werden, ihn bei seinem „Spätwerk“ zu beobachten. Und vielleicht nähert sich Schläpfer doch noch den neuen Medien. Er kündigt an, dass die Filmemacherin Susanne Stenner in Wien regelmäßig kleine Filmepisoden drehen und sie auf allen digitalen Kanälen ins Internet stellen werde. „So entsteht eine Reibung mit mir und meiner Arbeit, weil ich mich auf diesen Plattformen wie gesagt sonst nicht bewege.“

ZUR PERSON Martin Schläpfer, geboren in Altstätten (Schweiz). Als Jugendlicher beginnt er mit dem Eiskunstlauf. Er studierte Ballett bei Marianne Fuchs in St. Gallen und an der Royal Ballet School in London. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehören Maryon Lane, Terry Westmoreland, David Howard, Gelsey Kirkland und Peter Appel. 1977 wurde er von Heinz Spoerli ins Basler Ballett engagiert, wo er schnell zu einem der charismatischsten Solisten avancierte. Ein Engagement ins Royal Winnipeg Ballet führte ihn außerdem für eine Spielzeit nach Kanada. Mit der 1990 in Basel gegründeten Ballettschule Dance Place schuf er eine erste Basis für seine intensive tanzpädagogische Arbeit, die er durch Studien bei Anne Woolliams in Zürich ergänzte. 1994 gründete er die Stiftung »Visions of Dance«. Mit seiner Ernennung zum Leiter des Berner Balletts begann 1994 Martin Schläpfers intensive Arbeit als Choreograph und Ballettdirektor. Seine bisherigen Ensembles – das Berner Ballett (1994 bis 1999), ballettmainz (1999 bis 2009) sowie das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg (2009 bis 2020) – formte er in kürzester Zeit zu Compagnien, deren Unverwechselbarkeit von der internationalen Presse, zahlreichen Auszeichnungen sowie einem großen Publikumszuspruch bestätigt wurde. Das Ballett am Rhein etwa wurde zuletzt viermal in Folge zwischen 2013 und 2017 von der Kritikerumfrage der Zeitschrift tanz zur »Kompanie des Jahres« gewählt und begeisterte nicht nur auf seinen beiden Heimatbühnen in Düsseldorf und Duisburg, sondern auch auf internationalen Gastspielen in Europa, Israel, Taiwan, Japan sowie im Oman. Martin Schläpfer hat in der Spielzeit 2020/21 die Leitung des Wiener Staatsballetts übernommen.

Ballett am Rhein Düsseldorf / Duisburg b.21 ALLTAG Ch. Hans van Manen
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