2000 Jahre Katholizismus zerstören

Teresa Vittuccis Geschichte betrachte ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Eine klassische Tanzkarriere blieb ihr aufgrund ihrer Körperformen verwehrt. Mittlerweile macht die 35-Jährige aber eine steile Karriere in eben diesem Bereich – und auf der Schnittstelle zwischen Tanz und Theater. Allerdings sind es nicht irgendwelche Sujets, denen sie sich widmet. Ihre Fokusthemen sind die Bewertung von Körpern und die politische Dimension des Frauseins, Feminismus und Emanzipation.

Aufmerksam geworden auf Teresa Vittucci bin ich durch einen Artikel in einer April-Ausgabe der ZEIT. „Doch, es ist möglich!“ lautet der Titel des Artikels von Andrea Heinz. Sie berichtet von „Hate Me, Tender“, Vittuccis jüngstes Solostück, das ihr in 2019 den Schweizer Tanzpreis erhielt. Heinz ist begeistert: „… Vittucci provoziert. Aber sie tut das nicht auf eine aggressive Weise, Sie geht das Publikum nicht an, sie bringt es zum Lachen – und zum Nachdenken. Man schaut und hört ihr gerne zu.“

Teresa Vittucci in „Hate me, tender“. Sie wäre im Juni Teil des Impulse Theater Festivals gewesen. Foto: Yushiko Kusano

In der Jurybegründung für den Tanzpreis heißt es zu der Tänzerin und „Hate Me, Tender“: „Sie nimmt sich dazu einer der bedeutendsten Frauenfiguren an, der Jungfrau Maria. Maria verkörpert die gütige und trauernde Mutter, die mitfühlende Frau, die Heiligste aller Heiligen. Von klerikalen Kreisen als Mutter Gottes verehrt und funktionalisiert, wird Maria als ein vor weiblichen Stereotypen triefendes Vorbild von feministischer Seite kritisiert. In diesem ersten Teil einer choreografisch-performativen Recherche zum Thema Hass und Feminismus befreit Teresa Vittucci die Figur der Maria von ihren Zuschreibungen und ihrer Ambivalenz, zeigt sie als Ikone, Sklavin und Heldin und gibt ihr so eine Bühne für einen zukünftigen Feminismus.“

Jurymitglied Isabelle Fuchs konstatiert: Teresa Vittucci genügen vierzig Minuten für eine metaphorische und systematische Dekonstruktion von heiklen und höchst politischen Themen: Sie demontiert nichts weniger als den Mythos der Jungfrau Maria – und ruiniert dabei 2000 Jahre Katholizismus – oder auch die Gesetze des Eigentums und der sexuellen Dominanz als Umstände des Kapitalismus. ‹Hate me, tender› ist eine engagierte Performance mit gepflegter Provokation und zugänglicher Radikalität. In dieser kurzen Zeit zeigt sich uns eine entschlossene und mutige Auffassung, die uns lange nachdenken lässt. Und vor allem sehen wir eine äußerst vielversprechende Künstlerin.“

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Trailer zu „Hate me, tender“, Teresa Vittucci

In einem Interview, das sie anlässlich der Verleihung des Tanzpreises erhalten hat, erzählt Vittucci, die in Wien aufwuchs, ihre tänzerische Biografie. Wie sie schon als Kind nichts lieber wollte als tanzen, früh an Musikschule und Konservatorium begann, sich aber schon damals von ihrer Lehrerin wegen ihrer Fülle beschimpft wurde. Als Teenagerin startet sie einen zweiten Versuch, talentiert, begabt, äußerst diszipliniert, wie sie berichtet, versucht sie mit den anderen auch körperlich Schritt zu halten und kämpft gegen ihren an.

Mir haben Vorbilder sehr gefehlt, vor allem weibliche. Natürlich wurde ich, dadurch, dass man mich in diese Schule überhaupt hineingelassen hat, aus heutiger Sicht unterstützt. Aber während ich dort war, wurde mir immer wieder gesagt: Teresa, du wirst nie Tänzerin. In der Ballett-Welt gilt das Gleichnis: Die dicke Tänzerin ist immer die schlechteste Tänzerin.“

Teresa Vittucci, 23.4.2020, Interview, Schweizer Kulturpreise

Vittucci sucht sich ihren eigenen Ausbildungsweg, der sie unter anderem an die Ailey School in New York führt sowie an die Experimental Academy for Dance in Salzburg. Mit einem Master in Expanded Theater an der Hochschule der Künste (HKB) in Bern schließt sie ihre Ausbildung ab.

Irgendwann habe ich verstanden, dass, was ich da erlebt habe, keine singuläre Erfahrung ist, sondern eine kollektive, davon, Frau in dieser Welt zu sein. Das Weniger-Sein-Müssen, Nicht-Sprechen-Dürfen im Tanz sind letztlich Mittel der Unterdrückung, die vor allem weibliche Körper betreffen. Mit der Emanzipation meines Körpers als Tänzerin ist auch eine politische Bewusstwerdung einhergegangen. Weil ich verstanden habe: Es geht nicht um mich, die als Individuum mit ihrem Körper kämpft. Es geht um ein System, das Interesse daran hat, dass Menschen sich unvollkommen fühlen.

Teresa Vittucci, 23.4.2020, Interview, Schweizer Kulturpreise

Vittucci hat nicht zufällig bereits häufiger mit Doris Uhlich zusammengearbeitet. Es gibt viele Überschneidungen: Körper und ihre Geschichte, Nacktheit, vermeintliche Behinderungen, Frauen und Körperlichkeit, Frauen und Sexismus – das interessiert auch sie. Und noch etwas sehr Angenehmes verbindet beide Choreografinnen und Tänzerinnen: Die Lust an einer radikalen Körperlichkeit, die so natürlich und schamlos transportiert wird, dass sie nie peinlich wird, überhöhend artifiziell oder unnötig verklausuliert. Ein tolles Beispiel ist Vittuccis Arbeit mit Sophia Christina Rodriguez „One day Project“. Die beiden Frauen arbeiten sich buchstäblich aneinander ab. Sprachlich, tänzerisch, lautmalend, beißend, streichelnd, tatschend – mit vollem Körpereinsatz, aber weit entfernt von artistischer Hochleistung oder brüsker Gewalt. Im Prolog berichten sie, sie hätten ein schrechliches Jahr 2015 gehabt, es startete und endete mit einem großen, schrecklichen Kampf. Im Sommer sei es „lovely, bautiful, very intimate“ zugegangen. Sie würden sich nun von diesem Jahr reinigen, um eine neue, reifere Beziehung zu beginnen.

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Zurzeit ist Vittucci mit ihrem Soloprojekt auf Tour – eigentlich. Beim Impulse Theater Festival im Juni wäre sie jetzt beispielsweise dabei gewesen. Darüber hinaus ist sie in 2019/20 Young Associate Artist (YAA!) am Tanzhaus Zürich.

Ich würde sie gern einmal live erleben und dabei vielleicht einer Antwort auf die Frage näherkommen, ob es einfach schön ist, dass da eine für die Tanzwelt ungewöhnliche Frau Karriere macht, ein wachsendes Publikum findet und zweifellos wichtige Themen präsentiert. Oder ob nicht die Traurigkeit obsiegen sollte aufgrund der Tatsache, dass Teresa Vittucci eine seltene Ausnahme ist. Und ihr Erfolg nicht auf „irgendwelchen“, sondern – fast schon klischeereif – feministischen Themen basiert. Dicke Frau gleich wütende Frau: Dieses Narrativ wird zweifellos bedient. Aber vielleicht braucht es genau sie und noch viel mehr Frauen ihrer Art, die mit ihren Erfahrungen der Körpervielfalt im Tanz substanziell einen Weg bahnen! Denn Ziel sollte es doch sein, dass jegliche Körperform in einer erfolgreichen Compagnie vertreten sein darf.

Auch wenn Body Positivity vielleicht auf Instagram ein Trend ist, ist das körperpositive Denken, also die Überzeugung, dass der Körper nie, und zwar wirklich nie, falsch ist, noch nicht wirklich angekommen.

Teresa Vittucci in „Doch, es ist möglich!“, DIE ZEIT, 16.4.2020
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