Dieser Mann schreibt mir aus der Seele: „Bloß nix streamen, sonst kommt bald keiner mehr – hinter dieser Scheindebatte wesen wohl fundamentalere Ängste vor Wirksamkeitsverlusten.“ Sie stammen von Holger Noltze, Professor für Musik und Medien/Musikjournalismus an der TU Dortmund. Gelesen habe ich sie in der „tanz“ vom Juni 2020. Die Corona-Krise hinterlässt für viele Künster, Compagnien und Theater wenig bis nichts, zuweilen den Ruin. Aber für das tanzinteressierte Publikum gibt es eine ganz besondere Chance: Es kann auf diese Weise so viele ältere, aus dem Fundus geholte sowie gerade aufgeführte Stücke im Netz sehen wie noch nie.
Und ich hoffe, dass sich eines durchsetzen und bleiben wird: die Parallelität von Live-Ereignissen (die natürlich auch ich liebe!) und Streaming. Wenn Rechtefragen und Technik geklärt sind, spricht aus meiner Sicht überhaupt nichts gegen digitale Premieren und Co. Auf diese Weise können Tanzbegeisterte endlich, endlich nicht nur in ihrem Umfeld, sondern an viel mehr Tanz in aller Welt teilhaben, ohne dafür Hunderte von Euro für Anreise, Hotel, Tickets usw. bezahlen zu müssen. Wer kann das schon und wie oft? Was den Tanz betrifft, würde ich ja gern in London leben. Stell‘ Dir vor, Du entscheidest im wöchentlichen Wechsel, ob Du ins Sadler’s Wells oder in die Royal Opera gehst.
Viele aktuelle Tipps für Tanz im Netz findet Ihr hier.
Und natürlich können wir dafür bezahlen, uns einen Abend freinehmen und wenn auch nicht hautnah in einem premierenfiebrigen, vibrierenden, aufgeregten Ambiente, aber doch gespannt und genießend am Bildschirm Tanz erleben!
Holger Notze schreibt weiter: „Auf die nächsten Live-Aufführungen in Oper, Tanz und Theater werden wir warten müssen. Doch steht zu vermuten, dass nach der Zeit des Social Distancing, der Verunmöglichung performativer Kunstausübung jenseits von Kammermusik, Lesungen und Pas de deux (auch sonst zusammenlebender Paare) das Videostreaming als zweitbeste Möglichkeit des Dabeiseins, wenn auch nicht gleichwertig ‚multisensorisches Ereignis‘ (Wald-Fuhrmann) als Medium eigener Art mit eigenem künstlersichen Anspruch erkannt wird. Man kann sich so jedenfalls ein Bild machen.“
Recht hat er, Tanz ins Wohnzimmer, ins Heimkino, in den Lesesessel oder fürs Rudelgucken. Schenkt uns (bezahlte) Kunst, wenn wir nicht vor Ort dabei sein können. Auch, wenn das Reisen wieder leichter wird.