Bereits der Ort ist ein Kunstwerk: Für ihre gerade veröffentlichte Arbeit „Invitation to Dance“ – Einladung zum Tanz – nutzen Helena Fernandino und Wagner Moreira das Haus Schminke in Löbau. Es gehört zu den vier wichtigsten Wohnhäusern der Moderne: Erbaut wurde es von Hans Scharoun in den Jahren 1932 und 1933. Es ist möbliert und in der Regel für Besucher zugänglich, aber eben nicht wirklich bewohnt. Dieses Setting harmoniert großartig mit Moreiras und Fernandinos Corona-Stück, ihrer tänzerischen Auseinandersetzung mit Wohnung, Architektur, den „eigenen vier Wänden“. Aufgenommen als One-Shot-Video (!) arbeitet sich das Paar auf Distanz, aber in geistiger und auch körpersprachlicher Verbindung, an den Möbeln ab und führt tänzerisch Raum für Raum durch das Haus.
Möbel, Fenster, Vorhänge und Einbauschränke werden zum Impuls für körperliches Vermessen und Bewegungsqualität: Moreira kugelt sich über das Sofa, wandert über den Tisch, Fernandino steigt buchstäblich ins Fenster und rutscht später das Geländer der imposanten Treppe herab. Bewegungen werden gespiegelt und beziehen sich aufeinander. Zu spüren ist, dass da zwei tanzen, die gut harmonieren, sich lange kennen (Fernandino und Moreira leben als Paar zusammen mit ihren beiden gemeinsamem Kindern).
Aber trotzdem gibt es eine Distanz, die zwar nicht beängstigend wirkt, aber doch wie eine Art bewegliche Kulisse zwischen den beiden Figuren steckt. Sie stoßen sich nicht an ihr, sie lässt sie aber auch nicht zueinander kommen. Sie sind nie gemeinsam in einem Zimmer, der eine scheint dem anderen immer ein wenig voraus oder zurück sein. Licht, Luft, Weite – das bietet das Haus Schminke, dessen erste Bewohner den großzügigen Garten, der das Haus umgibt, als zusätzlichen Wohn- und Lebensraum betrachteten.
All das passiert in einem etwas verstaubten Clean Chic ohne überflüssige Dekoration oder Gegenstände, der die tänzerische Qualität und das Thema Reduktion bestens zur Geltung bringt. Die Distanz scheint das Paar in ihrer Alltagshektik ganz gut zu managen, es bringt sie in eine Form der Isolation, aber nicht zur Verzweiflung. Mit viel Energie und angereichert mit amüsanten Momenten wirbeln sich Moreira und Fernandino durch Bad, Schlafzimmer und Küche. Zwischendurch serviert Fernandino ihrem Mann noch rasch einen Kaffee, der sich später, nach kurzem, aber offenbar etwas freudlosem Hüpfen auf der Matratze, ins Bett legen wird. Doch ein wenig Melancholie oder sogar Abstands-Depression?
Wie schön, nicht nur dieses tolle Stück, sondern auch diese Ikone der Architektur durch Tänzer kennenzulernen! Der Besuch des Schminke-Hauses – wenn nach Corona wieder geöffnet – lohnt bestimmt. Löbau, das liegt zwischen Bautzen und Görlitz in der sächsischen Oberlausitz.
Wagner Moreira, gebürtiger Brasilianer, lebt seit 2003 in Deutschland. Ab der kommenden Spielzeit 2020/21 wird er die Leitung der Tanzcompagnie an der Landesbühne Sachsen in Radebeul übernehmen.
Der Film wurde von Steffen Krones (Lax Film) gedreht, Simone Ferrini begleitet am Piano. „Invitation to Dance“ ist auch Teil des Performance/Tanz Online-Programms Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste.